Wer ist ein Deutscher?

Mein Vater ist donauschwäbischer Herkunft (Familie Frank wohnte nachweislich seit mindestens 250 Jahren auf dem Gebiet der Österreichisch-Ungarische Monarchie), katholisch; meine Mutter, serbisch-orthodox, entstammt einer Familie Vuletic aus dem Kosovo (Auswanderer aus dem osmanischen Reich).

1959 als Spätaussiedler nach Deutschland.

Anfang der 70-er Jahren Studium der Pädagogik in Lüneburg.

Arbeit mit Gastarbeiterkindern in Hamburg.

Unterstützung der Kriegsflüchtlinge (Jugoslawienkriege), Mütter von Srebrenica, Mütter in Schwarz (Belgrad).

Ca. 40 Jahre Schultätigkeit: Grundschule, Hauptschule, Förderschule, immer Deutschunterricht mit Flüchtlingskindern.

In Kleve seit 2009, Gründungsmitglied von Haus Mifgash, Deutschkurse bei Haus Mifgash – Wege in die Arbeit… Arbeit in der kleinen Schule für kranke Kinder in Bedburg-Hau, Integrationskurse (auch Alphabetisierung) an der VHS. 

Interesse hätte ich an den Themen:

– Balkankriege

– Glaubensgrenze

– Muslime auf dem Balkan

– Wer ist ein Deutscher?


Text: Josefine Frank

Grafik: Lalebi design dreams


Rassismus bekämpfen

Was motiviert Dich, am Projekt teilzunehmen? 

Aufklärung, Rassismus bekämpfen.

 

Zu welchen Themen möchtest Du gerne erzählen?

Es kommt darauf an, was die Kinder interessiert. Ich möchte die Kinder entscheiden lassen. 

Ich kann sonst natürlich über meine Erfahrung erzählen und wie ich in Tunesien aufgewachsen bin. Ich kann über mein Leben in Deutschland als Student, Vater und Marketingleiter erzählen, ebenso über die Schwierigkeiten, denen ich begegnet bin und die Vorurteile, mit denen ich konfrontiert werde


Text: Ein Botschafter der Vielfalt


Rassismus

Mit diesem Thema haben wir uns mehrmals in den letzten Wochen beschäftigt. Wenn man an Rassismus denkt, fällt einem sofort Rosa Parks im Bus ein. Sie musste als dunkelhäutige Frau für einen weißen Mann Platz machen, nur wegen ihrer Hautfarbe. Dieser Vorfall ist 1955 geschehen, also schon lange her. Und trotzdem gibt es immer noch Rassentrennung und Rassismus.

Menschen allein anhand ihrer Hautfarbe zu definieren, ist in unserer Zeit meiner Meinung nach sehr schade. Selbst in der Schule fallen ab und zu noch rassistische Sprüche. Auch wenn sie nur als „Spaß“ gemeint sind, können sie sehr verletzend wirken. Oft ist man sich gar nicht bewusst, dass etwas rassistisch gemeint ist. Dies kommt auch bei alltäglichen Dingen vor wie z.B. dem „Negerkuss“. Oft werden dunkelhäutige Menschen auch als Kriminelle, als Arme oder Geflüchtete in Filmen dargestellt.

Und nun kommen wir zu der Frage: Was kann ich gegen Rassismus tun?

➔ Informiere dich gut und stelle erst einmal klar, was der Begriff überhaupt bedeutet!

➔ Mische dich ein, wenn du etwa merkst, wie jemand beleidigt wird, und tue etwas dagegen!

➔ Zeig deine Meinung! Geh auf Demos oder setze ein Zeichen gegen den Rassismus!

 


Autor: Emma, Schülerin

Zeichnung: Emma
Erfassung des handschriflichen Textes: Thomas Ruffmann


Wie will ich lernen?

Das Lernen ist ein individueller Prozess. Jeder von uns kann auf unterschiedliche Art und Weise lernen. Manche lernen besser durch Lesen, andere durch Scheiben, dritte durch Zuhören. Die Erfahrung der Menschheit zeigt, dass man am besten durch Entdecken lernt. Das Entdecken könnte man in jedem Schulfach einsetzen.

Am 12. Mai (mit Fortsetzung am 19. Mai) fand eine Begegnung mit der neunten Klasse der Gesamtschule am Forstgarten Kleve statt. Bei dieser Begegnung sollte demonstriert werden, wie das Entdecken in Mathematik Unterricht stattfinden kann.

Fragen und Anregungen der SuS vor den Unterrichten

Das Besondere bei dieser Begegnung war, dass sie mit zwei Botschafterinnen der Vielfalt stattfand.

Svetlana Goranova ist die Gründerin eines Unternehmens in Bulgarien mit dem Namen Fun Mathematics. Die Idee dieses Unternehmens ist, verschiedene Fakten und Konzepte der Mathematik auf interessante Art und Weise den Kindern zu präsentieren. Diese mathematische Methode hat schon über 5000 begeisterte Anhänger unter den VorschüllerInnen und SchüllerInnen in Bulgarien.

Maria Brauchle ist Mathematikerin und Wissenschaftlerin bei dem Institut für Mathematik und Informatik bei der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Anwendung einer dynamischen Mathematik-Software zusammen mit dem forschungsbasierten Lernansatz im Mathematikunterricht.

Bei dieser Begegnung haben wir – Svetlana und Maria – zum ersten Mal einen Unterricht zusammen gestaltet. Das Thema war Die Fibonacci Zahlen und der Goldener Schnitt.

Am Anfang wurden die SuS gebeten abzustimmen, welches von drei Fotos ihnen am besten gefällt. Die Mehrheit hat für das Bild Nr. 2 gestimmt.

Danach wurden ihnen die Fibonacci Zahlen und deren Beziehung zu der Natur demonstriert.

Die nächste Aufgabe war durch Bildung von Quadraten mit Seitenlänge gleich der nächsten Fibonacci Zahl die Goldene Spirale zu konstruieren.

Dann wurde den SuS eine dynamische Datei zur Verfügung gestellt, mit derer Hilfe sie die entstandene geometrische Konstruktion untersuchen konnten. Die Idee war, durch die Untersuchung herauszufinden, dass die Seitenlängen der Rechtecke sich immer in dem gleichen Verhältnis befinden. Dieses Seitenverhältnis ist speziell und wird Goldener Schnitt genannt.

Aber wie hing der Goldener Schnitt zu den Bildern von Anfang des Unterrichts zusammen? Dazu gab es noch eine dynamische Datei, um die Bilder zu untersuchen. Die Konstruktion des Bildes Nr. 2 kam dem Goldenen Schnitt am nächsten. Und so gelangten wir zu einer Feststellung, die von den großen Künstlern verwendet wird, dass das menschliche Auge Kompositionen, in denen der Goldene Schnitt vorkommt, mag.

Dies war eine kleine Demonstration, wie Natur, Mathematik und Kunst verbunden sind. Das wurde noch im ersten Unterricht von den SuS erkannt und positiv bewertet.

Ein anderer Aspekt des Themas „Wie will ich lernen?“ ist die Raumgestaltung. Dazu wurden den SuS Bilder von dem Labor „Das Klassenzimmer der Zukunft“ präsentiert. Das Labor ist auf die MINT Ausbildung ausgerichtet und befindet sich in der Zentrale der European Schoolnet in Brüssel. Die Hauptidee ist, dass der Raum in verschiedenen Bereichen für die unterschiedlichen Aktivitäten unterteilt ist. Jeder Stuhl ist auch gleichzeitig ein Schreibtisch und hat Räder, sodass die SchülerInnen bequem sich von Bereich zu Bereich bewegen können. Auch jegliche Technik wie Lego-Roboter, Einsteinlabore und andere ist dort zu finden. Einige der SuS äußerten die Meinung, dass sie gern in so einem Raum lernen würden.

Die Botschafterinnen waren auf die Reaktionen der SchülerInnen gespannt. Manche äußerten sich, dass sie gern durch Entdecken und auch in solchen mit viel Technik ausgestatteten Räumen lernen würden. Andere meldeten, dass sie am liebsten bei den bekannten Methoden speziell in Mathematikunterricht bleiben wollen. Die Unterrichtsgestaltung sollte die verschiedenen Lernweisen unterstützen und fördern. Svetlana fügte noch hinzu, dass Mathematikunterricht Bewegung und Spaß braucht, und dass die SchülerInnen es verdienen, bei der Entdeckung, wie schön Mathematik sein kann, sich anleiten zu lassen. Zusätzlich vertritt Maria die Meinung, dass sich das Ausbildungssystem nach den Bedürfnissen der Arbeitswelt entwickeln soll und für diese Entwicklung alle Interessenten wie WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Firmen ihren Beitrag leisten sollen.


Text: Svetlana Goranova und Maria Brauchle

Redaktion: Anni Velkova-Rehm
Bilder: Zur Verfügung gestellt von Svetlana Goranova und Maria Brauchle
Screenshots: Anni Velkova-Rehm
Grafik: Lalebi design dreams


Das Leben ist ein Abenteuer

Deutschland hat mir so viele BotschafterInnen der Vielfalt gegeben, die ich so lieb gewonnen und fest in mein Herz geschlossen habe, dass sie für immer dort bleiben werden. Diesen wertvollen Menschen bin ich begegnet – in Greenpeace Karlsruhe, im Tanztheater von Gabriela Lang, im Verein „Bulgarische Akademikerin“, in Aegee Karlsruhe.

All dies gab mir viel Kraft und ebnete mir langsam den Weg, in mein Heimatland Bulgarien zurückzukehren und alles, was ich so großzügig erhalten hatte, auch an die bulgarische Gesellschaft zurückzugeben.

Ebenfalls im Rahmen dieses Projekts möchte ich viel geben – mit meinem Optimismus infizieren, dass das Leben ein Abenteuer sein kann. Das ist der Gedanke, der wie ein Motor mich auf meinem Weg immer auf Trab hält, daher auch meine Botschaft:

„Das Leben ist ein Abenteuer!“

Mein persönliches Abenteuer hat mir meinen erfüllten Traum gebracht: Tausende Kinder verliebt in Mathematik! In 2010 habe ich das Zentrum für unterhaltsame Mathematik gegründet (https://zabavnamatematika.com/). Unter unserem Motto „Mit Händen, Herz und Kopf in Mathematik“ haben tausende Kinder schon früh entdeckt, dass Mathematik ein Abenteuer mit Freunden ist, ein weites Feld zum Experimentieren und ein faszinierender Lernprozess. Sie sind selbstbewusster geworden und sagen:

„Jetzt werde ich es versuchen“ statt „Ich kann nicht“!

 

Und alles begann mit einem Master in Mathematik in Deutschland. Meine stillen Wünsche wurden erhört, Mathematik zu studieren, Menschen aus aller Welt zu treffen, Vertrauen zu gewinnen und viele Erfahrungen zu machen, was mich schließlich zu einer Ausstellung von Glücksspielen in der deutschen Studentenstadt Karlsruhe führte, wo ich als Mathematikerin Anstellung fand. Meine Arbeit bestand darin, Kindern und Erwachsenen die Chancen zu erklären, beim Poker, dem einarmigen Banditen und anderen Glücksspielen zu gewinnen und zu verlieren. Natürlich hat die Bank immer gewonnen, aber wenn man sie in Zahlen zeigt, ist die Erinnerung in den Köpfen der Kinder permanent eingeprägt.

Nun freue ich mich auf viele Begegnungen, auf gegenseitiges Geben und Nehmen und viel Spaß miteinander! So möchte ich meinen Weg in das Abenteuer fortsetzen…


Text: Svetlana Goranova

Redaktion: Anni Velkova-Rehm
Bilder: Persönliches Archiv von Svetlana Goranova


Religionen in anderen Ländern/Kulturen – Vorurteile und Klischees

Was unterscheidet die Religionen wirklich?

Warum halten viele ihre Religion für die einzig richtige?

Das waren die ersten Fragen, zu denen sich die SchülerInnen der 9. Klasse im Fach Praktischer Philosophie an der Gesamtschule am Forstgarten mit den BotschafterInnen der Vielfalt – Hassan Dabi und Ron Mannheim – ausgetauscht haben. Eine lebhafte Diskussion ergab sich, als die SchülerInnen ihre weiteren Fragen stellten:

Das Bild zeigt die Auswertung von SchülerInnen-Meldungen mittels app.sli.do. Die Kommentare der SchülerInnen sind nicht korrigiert.

Insbesondere die Frage „Sollte man Religionen dann nicht einfach abschaffen?“ sorgte für große Aufregung bei allen. Ist die Frage logisch oder nicht – das spielte zunächst keine Rolle. Es schien auf jeden Fall eine wichtige Frage zu sein, denn im Klassenzimmer diskutierten alle lebhaft über die Rolle der Religion in unserem Leben. Verschiedene Positionen und Argumente auch zum Thema „Glaube an Gott“ gab es, die nicht ohne Kritik seitens der SuS aufgenommen wurden.

Und das ergab sich am Ende der Sitzung als quasi eine Art Ergebnis der Diskussion:

Das Bild zeigt die Auswertung von SchülerInnen-Meldungen mittels app.sli.do. Die Kommentare der SchülerInnen sind nicht korrigiert.

Das Bild zeigt die Auswertung von SchülerInnen-Meldungen mittels app.sli.do. Die Kommentare der SchülerInnen sind nicht korrigiert.

Und das teilte Hassan Dabi reflektierend nach der Sitzung mit:

„Alle Religionen weisen auf Frieden, Liebe, Gerechtigkeit, Zusammenarbeit usw. hin. […]

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich nur einen Koran, mein Abiturzeugnis und etwas Geld mitgebracht, dann habe ich studiert, gearbeitet und geheiratet.

Vieles im Leben ist änderbar, nach dem Motto: „Nichts im Leben bleibt für immer gleich.“

Ich habe mir mehrmals diese Fragen gestellt, ob ich solche Veränderungen in meinem Leben brauche:

  • Glauben: Nein (unveränderbar)
  • Technologie: Ja (durch Lernen: Internet, Smart-Phone etc.)
  • Verhalten: Ja (durch Erziehung: Respekt etc.)
  • Ausbildung: ja (durch die Bildung: Schule, Studium, Beruf etc.)
  • Integration: Ja (durch Sprache lernen, Gesetze einhalten etc.)
  • Dialoge: Ja (durch Veranstaltungen und Teilnehmen etc.)

Ich habe mehr über die Fragen der Religionen recherchiert.

Die Meldungen der SchülerInnen und die Kommentare motivieren mich, über weitere Themen zu recherchieren. Es war eine sehr spannende Sitzung.

Ich bedanke mich bei allen Anwesenden für die Einladung und wünsche allen auch weiterhin ein erfolgreiches Schuljahr!“


Text: Anni Velkova-Rehm und Hassan Dabi

Screenshots: Anni Velkova-Rehm


Lernziel „mündige*r Bürger*in“

Unsere Botschafter*innen-Begegnungen haben immer ein konkretes Thema und sind innerlich durch 2-3 Unterthemen mit dazugehörigen Fragen strukturiert. Die Fragen bringen meine Schüler*innen in vorbereitenden Sitzungen ein und arbeiten so aktiv aus, was sie lernen wollen. Sie beschäftigte beispielsweise die Frage, ob man Religionen abschaffen sollte.

Material betrachtet haben wir mit den beiden Botschaftern Argumente dafür und dagegen gesammelt. Es wurde über die Funktionen von Religion gesprochen und die Schüler*innen positionierten sich religiös und religionspolitisch.

Die von mir gesteckten Lernziele schließen dabei aber – auch und gerade – die oben angesprochenen Formen der demokratisch-partizipativen Unterrichtsvorbereitung ein.

Ich gebe meinen Schüler*innen die Möglichkeit, eine doppelte Selbstwirksamkeit zu erleben:

Meine Position ist wichtig (material/zur Sache) und ohne mich läuft nichts (formal/zur Form).“

Erst wer diesen Eindruck verinnerlicht hat, kann sich „mündige*r Bürger*in“ nennen.

Und diese mündigen Bürger*innen drehen manchmal auch innerhalb einer Stunde das Thema spontan um 180 Grad. Außerdem sind die zentralen Fragen nicht immer politisch korrekt und nicht jede Antwort logisch gültig formuliert. Darauf müssen unsere Botschafter*innen, Lehrer*innen und das Projektteam gefasst sein. Denn Inklusion und Teilhabe zu leben, bedeutet, den Beteiligten einen Raum zu geben, in dem sie zugleich sozialisiert werden UND sich entwickeln können. Als Moderator sorge ich dafür, dass Schüler*innen sich nicht beliebig positionieren. Genauso ist es meine Aufgabe, die Offenheit für neue Lösungsansätze zu wahren. Das bedeutet Praktische Philosophie.


Autor: Philipp Giesinger, Lehrer an der Gesamtschule am Forstgarten in Kleve

Bild: Anni Velkova-Rehm


Jede Erfahrung ist anders und macht weiser!

Man entwickelt sich, wenn man neue Erfahrungen im Leben sammelt, denn die „Routine“ kann „blind“ machen – „blind“, weil die wahren Gründe nicht eingesehen werden können, warum jemand auf eine bestimmte Art und Weise denkt und handelt. Was hat diese Person erlebt? Wie hat ihre Lebensgeschichte ihr Denken und ihr Handeln beeinflusst? Anstatt individuell mit geöffneten Herzen bei jedem zu schauen, werden Menschen viel zu schnell mit Vorurteilen konfrontiert.

Wir können nur dann mit negativen Vorurteilen aufhören, wenn wir uns für die Lebensgeschichte der anderen öffnen und anschließend Empathie und Verständnis entwickeln.


Text: Adela Lala

Redaktion: Anni Velkova-Rehm


Vereinte Kraft versetzt Berge

Auch wenn man schon vor anderen Menschen viele Vorträge gehalten hat, ist es etwas komplett anderes, als Botschafterin vor einer Klasse zu stehen. Diesmal ging es eben nicht um meine Arbeit…

Viele Fragen schwirrten mir in dem Kopf: Was wird die SchülerInnen interessieren? Wird es eher das Interview mit Oma sein, welches ich komplett für die Stunde übersetzt habe? Wird es eher meine eigene Erfahrung als jüdischstämmige sein? Oder doch die ihnen unbekannte Geschichte und Kultur Bulgariens, die zur Rettung der bulgarischen Juden geführt haben? Kann man sich darauf überhaupt vorbereiten? Die Fakten sind mir entweder bekannt oder ich habe sie recherchiert, aber was ist mit deren Interpretation oder die eigene emotionale „Ladung“?

Ich war sehr, sehr aufgeregt, denn ich wollte möglichst viel als Basis für Nachdenken und Diskussion liefern.

Angefangen haben wir mit meiner Vorstellung sowie meine Motivation, am Projekt als Botschafterin teilzunehmen: Wir sind alle Zeitzeugen!

Daraufhin hat Philipp das Interview mit Oma vorgelesen, dafür bin ich ihm sehr dankbar! Für mich persönlich wäre es ansonsten zu schwer (rein emotional) geworden, zum Hauptthema zu kommen – die Erfahrung von Oma ist eine gute Einführung darin. Das „Etikett“ kann man beliebig austauschen: statt „Judentum“ könnte „Migrationshintergrund“, „Behinderung“, „Homosexualität“ oder was auch immer stehen. Die Frage ist, wie man mit den Menschen – trotz „Etikett“ – umgeht.

Genau das zeigt die Erfahrung meiner Oma: Auch wenn sie sehr schwere Zeiten erlebte, sie erinnert sich sehr gut daran, wie sie die Menschen behandelten, die sie während ihrer Deportation in Razgrad kennenlernte: die Lehrerin, die Kinder in ihrer Klasse, die bulgarische und die türkische Familie, bei denen sie gelebt haben, die gute Nachbarin, die sich selbst in Gefahr brachte, um mit ihnen, den Kindern, trotz Ausganssperre zu spazieren. Wie sie selbst sagt: „Wir gerieten an gute Menschen mit guten Herzen.“ Darum geht es mir.

Als Überleitung erinnerte Philipp kurz an das Milgram-Experiment, welches zuvor ein Thema im Unterricht gewesen sei. Daraufhin widmeten wir uns der Kultur und der Geschichte Bulgariens, die uns, BulgarInnen, zu „Dickschädel“ machen, die die eigene Meinung immer stark vertreten und Autoritäten selten ernst nehmen. Die SchülerInnen waren sehr interessiert, sie überlegten aktiv mit, was die von mir und Anni (als Bulgarin natürlich unterstützend) erzählten Geschichten ihnen sagen wollen.

Besonderen Eindruck schien eine Episode der bulgarischen Geschichte zu hinterlassen: Im März 1943 war ein Zug mit versiegelten Waggons aus Thessaloniki in Kjustendil eingetroffen, der von deutschen Soldaten schwer bewacht wurde. Man konnte wohl nichts von dem Inneren sehen, die verzweifelten Schreie der darin Eingesperrten ließen wohl aber keine Zweifel darüber. Daraufhin sammelten sich die Bauer, die in der Nähe der Gleise wohnten, jeder bewaffnet mit dem, was er finden konnte. Sie wollten die Waggons zerschlagen und die Unglücklichen befreien.

Ein Schüler überlegte, wie viele sich trauen würden, selbst in Gefahr zu geraten, wenn es um Bekannte (wie beispielsweise Nachbarn) gehen würde. Anni wies darauf hin, dass es eine noch offenere Frage ist, wie viele sich trauen würden, die Regeln zu brechen, wenn es sich, wie in diesem Fall war, um komplett Unbekannte handeln würde.

Weiterhin erzählte ich die geschichtlichen Fakten, die zur gesamtgesellschaftlichen Bewegung zur Rettung der bulgarischen Juden führten.

Da ich glaube, dass dies keine spezifische Eigenschaft von BulgarInnen ist und dass alle Menschen so mutig handeln können, wählte ich bulgarische Sprichwörter, die die für mich drei wichtigsten Gründen hervorheben. Die SchülerInnen überlegten, die von mir nicht im Voraus erwähnten Gründe richtig zu benennen.

  • Wer ein Messer rauszieht, stirbt an einem Messer.
  • Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
  • Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu.
  • Wie man in dem Wald ruft, so schallt es heraus.
  • Ein sanftes Wort öffnet eiserne Tore.

(Umgang mit Anderen)

  • Wie du dir das Bett machst, so wirst du darin ruhen.
  • Die Reben brauchen eine Hacke, keine Gebete.
  • Dem Wolfe ist der Nacken dick, weil er seine Arbeit alleine erledigt.
  • Was du säst, das wirst du ernten.
  • Nichts fällt vom Himmel.

(Eigenverantwortung)

  • Wenn du was bekommen willst, lerne zu geben.
  • Willst du lange leben, so öffne dein Herz.
  • Eine Schwalbe macht keinen Frühling.
  • Vereinte Kraft versetzt Berge.

(Bedeutung der Gesellschaft)

Ich bedanke mich herzlich bei allen, die an der Stunde teilgenommen haben – an Anni und Philipp für die tolle Unterstützung und and alle SchülerInnen: Ihr habt mich zu noch mehr Nachdenken gebracht, hoffentlich ich Euch auch!

Mir war klar, dass die Zeit ggf. nicht für alles ausreichen würde, aber es ging und geht mir darum, den Anfang zu machen. Diejenigen, die interessiert sind, können sich danach selbstständig vertiefen – besonders, wenn sie sich meine Botschaft zu Herzen genommen haben:

Wir sind alle Zeitzeugen! Jeder kann einen wertvollen Beitrag leisten!


Text: Elisara


Wir sind alle Zeitzeugen!

Ich wollte einen passenden Titel für meine Botschaft wählen. Dann durchfuhr es mir wie Strom, ich wusste es: „Wir sind alle Zeitzeugen!

Wieso, was, warum, könnte man sich fragen. Wir reden über Zeitzeugen immer in dem Kontext von etwas, was schon längst war, etwas, was lange vergessen zu sein scheint, etwas, was von Bedeutsamkeit war. Wir vergessen jedoch ständig, dass wir selber Zeitzeugen sind – von dem, was jetzt ist. Wir kreieren jetzt die Wirklichkeit von morgen. Gerade in diesem Jahr, wo Sophie Scholls Geburtstag 100 Jahre her ist, sollte sich jeder die Fragen stellen:

  • Wovon bin ich Zeitzeuge?
  • Was gefällt mir in der Welt, so wie sie ist?
  • Was könnte ich verändern, wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Was mich angeht: Ich bin Zeitzeugin von heute, ich gestalte die Welt aktiv mit. Ich bin aber auch Zeitzeugin von anderen Geschehnissen. Solche, die ca. 80 Jahre her sind. Solche, von denen ich eigentlich lieber nie gewusst hätte, da sie so grauenvoll sind. Allerdings solche, die meine eigene Geschichte, meine eigene Seele, meine eigenen Reaktionen und mein Verhalten viel besser erklären, als ich es je für möglich gehalten habe. Dieses Trauma, das mir persönlich nie widerfahren ist und trotzdem so präsent, so lebendig ist. Es gibt mittlerweile sogar viele Begriffe (Kriegsenkel etc.), viele Bücher wurden über das Thema veröffentlicht. Ob ich mich als Enkelin einer anderen Art von Kriegskind „Kriegsenkelin“ nennen kann, weiß ich nicht. Denn: Meine Oma ist Jüdin. Das, was ihr widerfahren ist, was viele Generationen ihren und damit meinen Vorfahren passiert ist, lebt auch in mir weiter, täglich werde ich mit diesem Erbe konfrontiert.

Nein, man sieht mir dieses Erbe nicht an. Ich trage auch keinen jüdischen Namen. Mein Vater wollte nicht, dass ich – wie ihm und Oma geschehen – mit Steinen beworfen werde.  Jedoch hatte mir mein Vater früh auf dem Weg die Erfahrung der Sepharden mitgegeben: „Was in deinem Kopf ist, kann dir keiner nehmen“. Sprich: Sei immer bereit zu fliehen, alles Materielle zu verlieren. Aber auch: „Erzähle nicht, dass du jüdische Vorfahren hast“.

Auch meine Oma hat mich nachhaltig geprägt. Ich bin genau wie sie hochsensibel, ich denke immer an die Menschen und sogar traurige (aber auch glückliche) Szenen in Filmen bringen mich zum Weinen. Ich bin aber auch (genau wie sie): Eine, die immer mindestens Plan A, B, C, D, E hat, damit alles immer vorbereitet ist, für den Fall der Fälle. Die 100% sichere Lösung haben will, und zwar so früh wie möglich – und daher wenig Geduld hat. Eine, die immer unter Strom ist.

Jetzt, selber Mutter, habe ich gesehen, wie dieses Verhalten automatisch weitergegeben wird – und angefangen, mich bewusst damit auseinander zu setzen.

Jetzt bin ich bewusst Zeitzeugin geworden – von all dem, was meiner Oma widerfahren ist. Sie hatte mir auch als Kind schon einige Momente erzählt, aber ich hatte sie tief in meinem Bewusstsein vergraben, sie kaum rausgeholt, da sie so schmerzhaft waren. Zum Beispiel, wie sie Zeitungen schwarz strichen und sie so auf den Fenstern anbrachten, dass von außen die Beleuchtung nicht sichtbar war, da die Juden immer wieder in ihren Häusern belästigt und schikaniert wurden.

Ich habe meinen Mut gesammelt und mit ihr gesprochen, da wir nur das, worüber wir wissen, verändern können. Es war nicht einfach, für sie nicht und für mich nicht. Viele Tränen haben wir vergossen. Ich habe Notizen geführt, viele Seiten geschrieben. Worum es geht? Hier ihre eigenen Worte:

Wir, die Kinder, auch wenn wir klein waren, erlebten alles mit – die Schikanen, die Sorgen, die Demütigungen, die mit Füßen getretene Menschenwürde, die präzedenzlos geraubten Menschenrechte – und weinten mit unseren Eltern, vor allem, als Gerüchte laut wurden, dass Juden in Vernichtungslager geschickt werden. Unsere Kindheit war nicht sorgenfrei und fröhlich. Sie wurde gnadenlos geraubt.

Ich spürte die Besorgnis meiner Eltern und lauschte dann ihren Gesprächen – auf Spanisch. Sie dachten, ich verstehe kein Spanisch, aber ich tat es… und versteckte mich hinter dem Kamin und weinte da allein. Wie kann sich ein Kind fühlen, wenn es sieht, dass die Eltern ständig weinen? Sie wussten nicht, dass ich über die Todeslager Bescheid weiß. Ich leide von diesem Trauma in meiner Seele auf Lebenszeit. Du siehst, wenn ich spreche, fange ich an zu weinen…

Danach kamen die Befehle für unsere Zwangsdeportation aus Sofia… In Viehwaggons für Pferde, wobei wir nicht wussten, wohin der Zug fuhr… Was soll ich sagen? Es wurde auch von den Todeslagern geredet. Drei Tage mussten wir an einer Stelle in den Viehwaggons bleiben, ohne aussteigen zu dürfen… Meine Schwester weinte immer wieder, dass sie Wasser wollte, und ich bemühte mich so sehr, ihr zu erklären, dass sie kein Wasser haben wollen dürfe, denn wenn Vater aussteigen würde, um welches zu füllen, würde er nicht lebend wiederkehren. Ich war sechs Jahre alt und sie war vier.

Ich erinnere mich an nichts anderes, nur an das – Angst, Stress, Weinen; das ist mir geblieben. Demütigungen!

Hier wollen sie oft Erzählungen von Erinnerungen in den Schulen oder bei anderen Veranstaltungen hören, um über den Holocaust zu sprechen. Ich meide das, weil mich das zu sehr zerrüttet. Ich meide es, Interviews zu diesem Thema zu geben, weil ich in Tränen ausbreche. Ich erlebe alles noch einmal. Das setzt mir zu. Ich habe diese erniedrigenden Umstände sehr schwer angenommen, ein Trauma ist in meinem Leben geblieben. Ich sage immer wieder ein Gedicht von Dimtscho Debeljanow, in dem steht:

„Wie traurig waren meine Kindheitstage!
Oh, wie viele Tränen versteckt, verborgen!
Und so viele schwarze Gedanken lasten auf mir,
dass ich mich an nichts erinnern möchte.“

Das hier, das sage ich, wenn ich gefragt werde.

Ich erlebe die Präsenz dieses Traumas in der Gegenwart mit, in ihr – und in mir. Ich weiß, sie wird definitiv nicht mehr darüber sprechen wollen.

Dafür kann ich das für sie übernehmen! Denn – dieses Trauma ist die eine Seite der Medaille. Und die andere? Sie ist die viel wichtigere Seite: ich bin genau wie Oma auf dieser Welt. Und das verdanken wir dem bulgarischen Volk.

Ich rede nicht von einzelnen Rettern, wie es in anderen Ländern gab. Ich rede von der bulgarischen Gesellschaft als Ganzes. In Bulgarien, als Land zwischen Orient und Okzident, sind viele Vertreter anderer Völker und Kulturen zu Hause, und zwar seit Jahrhunderten – Türken, Griechen, Armenier, Juden, Walachen, Pomaken, Tataren und viele, viele mehr. Alle leben friedlich miteinander als Teil der gemeinsamen Gesellschaft, bis auf Ausnahmen gab es und gibt es keine Ressentiments. Ein Beispiel für Weltoffenheit und Akzeptanz: Im Zentrum von Sofia sind Synagoge, Moschee und Kirche kaum 200m voneinander entfernt.

Daher war es nicht verwunderlich, dass der bulgarischen Bevölkerung das Verständnis fehlte, als z.B. die Pläne für ein „Gesetz zum Schutz der Nation“ (antijüdisch) bekannt wurden. Noch weniger war das Verständnis, als ihre Mitbürger im März 1943 zusammengetrieben wurden, da schon Details über die Todeslager bekannt waren. Massive Proteste brachen aus: sowohl von der breiten Gesellschaft, als auch von Politikern, geführt von dem Vize-Parlamentspräsidenten. Vertreter der orthodoxen Kirche haben sich für die Rettung der bulgarischen Juden eingesetzt, dem Zaren Boris III. wird auch eine wichtige Rolle zugeschrieben.

Ich weiß, das Thema ist relativ unbekannt außerhalb Bulgarien. Fakt ist jedoch: Die bulgarischen Juden wurden gerettet. Wie genau? Darüber kann ich auch gerne erzählen.

Denn:

Wir sind alle Zeitzeugen!

Jeder kann einen Beitrag leisten!


Text: Elisara

Grafik: Lalebi design dreams