Ich wollte einen passenden Titel für meine Botschaft wählen. Dann durchfuhr es mir wie Strom, ich wusste es: „Wir sind alle Zeitzeugen!

Wieso, was, warum, könnte man sich fragen. Wir reden über Zeitzeugen immer in dem Kontext von etwas, was schon längst war, etwas, was lange vergessen zu sein scheint, etwas, was von Bedeutsamkeit war. Wir vergessen jedoch ständig, dass wir selber Zeitzeugen sind – von dem, was jetzt ist. Wir kreieren jetzt die Wirklichkeit von morgen. Gerade in diesem Jahr, wo Sophie Scholls Geburtstag 100 Jahre her ist, sollte sich jeder die Fragen stellen:

  • Wovon bin ich Zeitzeuge?
  • Was gefällt mir in der Welt, so wie sie ist?
  • Was könnte ich verändern, wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Was mich angeht: Ich bin Zeitzeugin von heute, ich gestalte die Welt aktiv mit. Ich bin aber auch Zeitzeugin von anderen Geschehnissen. Solche, die ca. 80 Jahre her sind. Solche, von denen ich eigentlich lieber nie gewusst hätte, da sie so grauenvoll sind. Allerdings solche, die meine eigene Geschichte, meine eigene Seele, meine eigenen Reaktionen und mein Verhalten viel besser erklären, als ich es je für möglich gehalten habe. Dieses Trauma, das mir persönlich nie widerfahren ist und trotzdem so präsent, so lebendig ist. Es gibt mittlerweile sogar viele Begriffe (Kriegsenkel etc.), viele Bücher wurden über das Thema veröffentlicht. Ob ich mich als Enkelin einer anderen Art von Kriegskind „Kriegsenkelin“ nennen kann, weiß ich nicht. Denn: Meine Oma ist Jüdin. Das, was ihr widerfahren ist, was viele Generationen ihren und damit meinen Vorfahren passiert ist, lebt auch in mir weiter, täglich werde ich mit diesem Erbe konfrontiert.

Nein, man sieht mir dieses Erbe nicht an. Ich trage auch keinen jüdischen Namen. Mein Vater wollte nicht, dass ich – wie ihm und Oma geschehen – mit Steinen beworfen werde.  Jedoch hatte mir mein Vater früh auf dem Weg die Erfahrung der Sepharden mitgegeben: „Was in deinem Kopf ist, kann dir keiner nehmen“. Sprich: Sei immer bereit zu fliehen, alles Materielle zu verlieren. Aber auch: „Erzähle nicht, dass du jüdische Vorfahren hast“.

Auch meine Oma hat mich nachhaltig geprägt. Ich bin genau wie sie hochsensibel, ich denke immer an die Menschen und sogar traurige (aber auch glückliche) Szenen in Filmen bringen mich zum Weinen. Ich bin aber auch (genau wie sie): Eine, die immer mindestens Plan A, B, C, D, E hat, damit alles immer vorbereitet ist, für den Fall der Fälle. Die 100% sichere Lösung haben will, und zwar so früh wie möglich – und daher wenig Geduld hat. Eine, die immer unter Strom ist.

Jetzt, selber Mutter, habe ich gesehen, wie dieses Verhalten automatisch weitergegeben wird – und angefangen, mich bewusst damit auseinander zu setzen.

Jetzt bin ich bewusst Zeitzeugin geworden – von all dem, was meiner Oma widerfahren ist. Sie hatte mir auch als Kind schon einige Momente erzählt, aber ich hatte sie tief in meinem Bewusstsein vergraben, sie kaum rausgeholt, da sie so schmerzhaft waren. Zum Beispiel, wie sie Zeitungen schwarz strichen und sie so auf den Fenstern anbrachten, dass von außen die Beleuchtung nicht sichtbar war, da die Juden immer wieder in ihren Häusern belästigt und schikaniert wurden.

Ich habe meinen Mut gesammelt und mit ihr gesprochen, da wir nur das, worüber wir wissen, verändern können. Es war nicht einfach, für sie nicht und für mich nicht. Viele Tränen haben wir vergossen. Ich habe Notizen geführt, viele Seiten geschrieben. Worum es geht? Hier ihre eigenen Worte:

Wir, die Kinder, auch wenn wir klein waren, erlebten alles mit – die Schikanen, die Sorgen, die Demütigungen, die mit Füßen getretene Menschenwürde, die präzedenzlos geraubten Menschenrechte – und weinten mit unseren Eltern, vor allem, als Gerüchte laut wurden, dass Juden in Vernichtungslager geschickt werden. Unsere Kindheit war nicht sorgenfrei und fröhlich. Sie wurde gnadenlos geraubt.

Ich spürte die Besorgnis meiner Eltern und lauschte dann ihren Gesprächen – auf Spanisch. Sie dachten, ich verstehe kein Spanisch, aber ich tat es… und versteckte mich hinter dem Kamin und weinte da allein. Wie kann sich ein Kind fühlen, wenn es sieht, dass die Eltern ständig weinen? Sie wussten nicht, dass ich über die Todeslager Bescheid weiß. Ich leide von diesem Trauma in meiner Seele auf Lebenszeit. Du siehst, wenn ich spreche, fange ich an zu weinen…

Danach kamen die Befehle für unsere Zwangsdeportation aus Sofia… In Viehwaggons für Pferde, wobei wir nicht wussten, wohin der Zug fuhr… Was soll ich sagen? Es wurde auch von den Todeslagern geredet. Drei Tage mussten wir an einer Stelle in den Viehwaggons bleiben, ohne aussteigen zu dürfen… Meine Schwester weinte immer wieder, dass sie Wasser wollte, und ich bemühte mich so sehr, ihr zu erklären, dass sie kein Wasser haben wollen dürfe, denn wenn Vater aussteigen würde, um welches zu füllen, würde er nicht lebend wiederkehren. Ich war sechs Jahre alt und sie war vier.

Ich erinnere mich an nichts anderes, nur an das – Angst, Stress, Weinen; das ist mir geblieben. Demütigungen!

Hier wollen sie oft Erzählungen von Erinnerungen in den Schulen oder bei anderen Veranstaltungen hören, um über den Holocaust zu sprechen. Ich meide das, weil mich das zu sehr zerrüttet. Ich meide es, Interviews zu diesem Thema zu geben, weil ich in Tränen ausbreche. Ich erlebe alles noch einmal. Das setzt mir zu. Ich habe diese erniedrigenden Umstände sehr schwer angenommen, ein Trauma ist in meinem Leben geblieben. Ich sage immer wieder ein Gedicht von Dimtscho Debeljanow, in dem steht:

„Wie traurig waren meine Kindheitstage!
Oh, wie viele Tränen versteckt, verborgen!
Und so viele schwarze Gedanken lasten auf mir,
dass ich mich an nichts erinnern möchte.“

Das hier, das sage ich, wenn ich gefragt werde.

Ich erlebe die Präsenz dieses Traumas in der Gegenwart mit, in ihr – und in mir. Ich weiß, sie wird definitiv nicht mehr darüber sprechen wollen.

Dafür kann ich das für sie übernehmen! Denn – dieses Trauma ist die eine Seite der Medaille. Und die andere? Sie ist die viel wichtigere Seite: ich bin genau wie Oma auf dieser Welt. Und das verdanken wir dem bulgarischen Volk.

Ich rede nicht von einzelnen Rettern, wie es in anderen Ländern gab. Ich rede von der bulgarischen Gesellschaft als Ganzes. In Bulgarien, als Land zwischen Orient und Okzident, sind viele Vertreter anderer Völker und Kulturen zu Hause, und zwar seit Jahrhunderten – Türken, Griechen, Armenier, Juden, Walachen, Pomaken, Tataren und viele, viele mehr. Alle leben friedlich miteinander als Teil der gemeinsamen Gesellschaft, bis auf Ausnahmen gab es und gibt es keine Ressentiments. Ein Beispiel für Weltoffenheit und Akzeptanz: Im Zentrum von Sofia sind Synagoge, Moschee und Kirche kaum 200m voneinander entfernt.

Daher war es nicht verwunderlich, dass der bulgarischen Bevölkerung das Verständnis fehlte, als z.B. die Pläne für ein „Gesetz zum Schutz der Nation“ (antijüdisch) bekannt wurden. Noch weniger war das Verständnis, als ihre Mitbürger im März 1943 zusammengetrieben wurden, da schon Details über die Todeslager bekannt waren. Massive Proteste brachen aus: sowohl von der breiten Gesellschaft, als auch von Politikern, geführt von dem Vize-Parlamentspräsidenten. Vertreter der orthodoxen Kirche haben sich für die Rettung der bulgarischen Juden eingesetzt, dem Zaren Boris III. wird auch eine wichtige Rolle zugeschrieben.

Ich weiß, das Thema ist relativ unbekannt außerhalb Bulgarien. Fakt ist jedoch: Die bulgarischen Juden wurden gerettet. Wie genau? Darüber kann ich auch gerne erzählen.

Denn:

Wir sind alle Zeitzeugen!

Jeder kann einen Beitrag leisten!


Text: Elisara

Grafik: Lalebi design dreams


Wir sind alle Zeitzeugen!

Ein Gedanke zu „Wir sind alle Zeitzeugen!

  • 23. Juni 2021 um 23:26 Uhr
    Permalink

    Liebe Elisara,

    vielen lieben Dank für Deinen rührenden Beitrag!

    Alles Liebe,
    Anni

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